Land im Wandel
DEN RASANTEN WIRTSCHAFTLICHEN WANDEL Vietnams haben die Bewohner der Insel Cat Hai mit besonders großer Wucht zu spüren bekommen. Noch vor ein paar Jahren war ihre Heimat weit weg von den Warenströmen der Weltwirtschaft. Die Einwohner hielten sich vorwiegend mit Fischfarmen und Landwirtschaft über Wasser. Wer etwas in der benachbarten Metropole Haiphong zu erledigen hatte, war auf das Fährboot angewiesen, das zweimal am Tag an der Insel haltmachte.
Mit der Abgeschiedenheit ist es seit September 2017 vorbei: Nach drei Jahren Bauzeit eröffnete die fünfeinhalb Kilometer lange Tan-Vu-Lach-Huyen-Brücke – die längste Meerbrücke in Südostasien, die die einst verschlafene Insel mit dem Festland verbindet. Nur ein paar Monate später nahm auf Cat Hai ein internationales Containerterminal den Betrieb auf – Nordvietnams erste Anlaufstelle für große Containerschiffe.
Mit der Infrastruktur kam auch die Industrie: Seit Mitte vergangenen Jahres läuft auf der Insel die Produktion von Vietnams erstem Autohersteller. Unter der Marke Vinfast will der Milliardär Pham Nhat Vuong zukünftig eine Viertelmillion Autos pro Jahr vom Band laufen lassen.
Der Aufbau eines eigenen Automobilsektors ist für das rund 100 Millionen Einwohner zählende Land ein Meilenstein in der wirtschaftlichen Entwicklung. Nach dem Ende des Vietnamkriegs und dem Sieg der Kommunisten zählte Vietnam bis in die 1980er-Jahre zu den ärmsten Ländern Asiens. Die Not zwang die Führung der Sozialistischen Republik zu Reformen. Die darauffolgende wirtschaftliche Öffnung initiierte einen historischen Aufschwung, der bis heute anhält – selbst angesichts der Corona-Krise erwarten Wirtschaftsforscher in dem Land für 2020 ein Wachstum von bis zu fünf Prozent. Während Vietnam lange vor allem für billige Textilien und Schuhe bekannt war, etabliert es sich nun zunehmend auch als Standort für Hightechproduktion und bietet Maschinenbauern gute Absatzchancen.
Vu Trong Tai gehört zu den Profiteuren des Trends. Er leitet die Vietnam-Niederlassung der südostasiatischen Messegesellschaft Reed Tradex und ist verantwortlich für die Werkzeugmaschinenmesse Metalex. Bis zur Corona-Krise konnte er sich Jahr für Jahr über einen wachsenden Andrang von Ausstellern und Besuchern freuen. „Die rasante industrielle Entwicklung lässt die Nachfrage im Maschinenbau stark steigen“, sagt er.
Der Handelskonflikt zwischen den USA und China, der im vergangenen Jahr die globalen Lieferketten durcheinanderbrachte, habe die Entwicklung begünstigt. „Viele Unternehmen sind mit ihren Fabriken von China nach Vietnam abgewandert“, sagt er. „Das hat dem Land geholfen, zum neuen Produktionszentrum Südostasiens aufzusteigen.“ Auch 2020 werde das produzierende Gewerbe wichtigster Treiber des Wirtschaftswachstums sein, das im Vorjahr bei über sieben Prozent lag und damit die Erwartungen der Regierung übertraf.
Der massive Andrang von ausländischen Unternehmen war einer der Hauptgründe für den Wirtschaftsboom: 3880 Projekte erhielten im vergangenen Jahr Investmentlizenzen – das entspricht einem Anstieg um 28 Prozent. Auch das Gesamtvolumen der angekündigten ausländischen Direktinvestitionen stieg kräftig an, es wuchs um sieben Prozent auf 38 Milliarden Dollar. Zwei Drittel des Kapitals, das nach Vietnam floss, gingen an das verarbeitende Gewerbe. Mit neuen Fabriken in Vietnam versuchten viele Unternehmen, den Strafzöllen zu entgehen, die China und die USA gegenseitig verhängt haben.
Globalisierung als Chance
Das Land gilt als idealer Ausweichstandort: Die Bevölkerung ist jung und vergleichsweise gut ausgebildet. Und die Regierung sieht die Globalisierung als eine große Chance für das Land und hat eine Reihe von Freihandelsverträgen geschlossen: Mit dem transpazifischen Handelspakt CPTPP befindet sich Vietnam seit 2018 in einer Freihandelszone mit Ländern wie Japan, Kanada und Mexiko. Ende Juni 2020 unterschrieb Vietnam ein Freihandelsabkommen mit der EU, das 99 Prozent der gegenseitigen Zölle abschafft. 2020 soll auch der Handelspakt RCEP fertig werden, der neben Vietnam und seinen südostasiatischen Nachbarn China einschließt.
Die guten Voraussetzungen lockten besonders Elektronikhersteller an: Nintendo kündigte an, einen Teil seiner Spielekonsolenproduktion nach Vietnam zu verlegen. Sharp setzt bei seiner Fertigung von LCD-Displays für den US-Markt auf den Standort. Und der Apple-Zulieferer Goertek entschied sich ebenfalls für ein weiteres Standbein in dem südostasiatischen Staat.
Auch in anderen Industriezweigen konnte Vietnam überzeugen: Der Automobil- und Maschinenbauzulieferer Schaeffler eröffnete im Mai 2019 ein 45 Millionen Euro teures Werk in der südvietnamesischen Industriestadt Bien Hoa mit dem erklärten Ziel, sich von China unabhängiger zu machen. Der Zulieferer ZF Friedrichshafen errichtete eine Fabrik für Fahrwerkmodultechnik direkt neben der Vinfast-Fabrik auf der Cat-Hai-Insel. Auch das chinesische Maschinenbauunternehmen Omnidex verlegte einen Teil seiner Produktion in das Nachbarland.
„Vietnam hat sich als wichtiger Bestandteil internationaler Lieferketten etabliert“, urteilt der Verein Deutscher Werkzeugmaschinenfabriken (VDW). Um am Weltmarkt konkurrenzfähig zu sein, seien die Hersteller auf anspruchsvolle Produktionstechnik angewiesen. Der Maschinenbau in Vietnam sei selbst aber nur schwach entwickelt, heißt es in einer Analyse des Vereins. Auch die deutsche Außenwirtschaftsförderagentur GTAI sieht Nachholbedarf: „Um ihre Produktivität zu erhöhen, brauchen vietnamesische Betriebe eine neue oder zumindest modernisierte Ausstattung“, so Vietnam-Expertin Frauke Schmitz-Bauerdick in einer Marktanalyse.
Enormer Raum für Wachstum
An der Lage der vietnamesischen Maschinenbauer hat sich seither wenig geändert. „Für lokale Hersteller ist es eine große Herausforderung, sich mit modernen Technologien auf dem neuesten Stand zu halten, um im Wettbewerb bestehen zu können“, urteilt Branchenfachmann Vu Trong Tai. Aktuell setzt Vietnams Wirtschaft vor allem auf Maschinenimporte aus dem Ausland. In den ersten neun Monaten des vergangenen Jahres hatten sie einen Gesamtwert von 26,9 Milliarden Dollar – zwölf Prozent mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahrs. Die Importe stammen aus Europa, Amerika, Japan und Südkorea – allen voran aber aus China, das zuletzt für fast 40 Prozent der Maschinenlieferungen stand.
Chinesische Maschinenbauer seien im Vergleich zu vietnamesischen noch stark im Vorteil, findet Tai. Das liege daran, dass chinesische Hersteller auf deutlich besser entwickelte industrielle Lieferketten zurückgreifen könnten. Auch bei der Infrastruktur hinke Vietnam noch hinterher. Tai zeigt sich aber überzeugt, dass sich das bald ändern werde. Die Regierung arbeite daran, die Voraussetzungen zu verbessern, sagt er. Helfen könnten den lokalen Herstellern auch im vorigen Jahr beschlossene Importbeschränkungen. So dürfen nun keine gebrauchten Maschinen mehr ins Land eingeführt werden, die älter als zehn Jahre sind. „Die Zeit ist reif, dass sich auch ausländische Hersteller verstärkt mit einer Produktion in Vietnam auseinandersetzen“, findet Tai. Er gibt sich optimistisch: „Es gibt enormen Raum für Wachstum.“